21. Januar 2016

Dünner Draht

Ich balanciere auf einem schmalen Drahtseil. Meine Fußsohlen schmerzen und ich spüre das Blut von ihnen tropfen. Es gibt kein zurück. Ich muss es auf die andere Seite schaffen, aber ein Ende ist längst nicht in Sicht. Es wird egal sein welcher Fuß auf welcher Seite abrutscht und wenn es passiert falle ich. Wie tief  weiß ich auch nicht, weil der Nebel meinen Augen die Sicht in alle Richtungen verwehrt. Am liebsten würde ich die Augen schließen und schauen was passiert. Vielleicht fängt mich jemand auf, vielleicht ist der Boden nah, oder mir gelingt der Überweg und auf der anderen Seite erwartet mich Hölle oder Paradies. Liebe oder Hass. Krieg oder Frieden. Es ist als müsse ich mich zwischen zwei Zeichnungen entscheiden. Die eine in Pastelltönen, die mir den Himmel zeigt. Ein Heißluftballon pendelt zwischen schwebenden Inseln auf denen die beeindruckensten Häuser und die schönsten Gärten angelegt wurden. Ein Riesenrad ragt über den Rand einer Insel hinweg und wer sich in eine Gondel wagt, wird erleben, was Freiheit bedeutet. Die Sonne scheint immer, denn dieses Paradies schwebt über der Wolkendecke und in dieser DinA3 großen Realität scheint das Leben vollkommen. Der Rahmen hält alles zusammen und bildet gleichzeitig eine Grenze. Eine Grenze. Keine Freiheit. Das andere Bild zeigt ein fliegendes Schiff, dass sich den Weg durch den Urwald bahnt. Es sieht geheimnisvoll aus und grau, blau und grün überwiegen, aber auf der anderen Seite dieses Bildes wartet etwas wunderbares. Etwas, das man nicht beschreiben kann. Dieses Wrack hat sich auf den Weg gemacht etwas zauberhaftes zu entdecken und so wie es aussieht, war der Weg weit und es ist dem Zerfall nah. Hoffentlich erreicht es sein Ziel rechtzeitig bevor es zu Grunde geht und mit ihm all der magische Glanz. Beide sind von unglaublicher Schönheit und für beide würde ich jegliche Zukunft liegen lassen, aber ich will mich nicht entscheiden. Wahrscheinlich werde ich immer das Einzigartige, Schöne des jeweils anderen Bildes vermissen. Wer kann mir heute sagen, welches Bild das richtige für morgen ist und ob ich jemals wieder das andere sehen werde? Wer sagt mir, dass ich es nicht bereuen werde, wenn das Nichtgewählte in die Hände eines anderen verliebten Betrachters fällt? Eigentlich ist es keine schmerzhafte Entscheidung. Nur die unvorhersehbaren Konsequenzen machen mir Angst.

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