5. April 2023

Das eigene Verlies

Du bist nicht hier. Doch könntest du mich sehen, würdest du mit einem nachsichtigen aber enttäuschtem Lächeln den Kopf schütteln. Du hast diese Entscheidung längst getroffen und mich direkt spüren lassen, wie falsch und schmerzvoll sie ist. Trotzdem stehe ich nun selbst auf der anderen Seite der Schlucht  und würde nichts lieber machen als mich kopfüber in ihren Abgrund fallen zu lassen, um in seiner bodenlosen Tiefe zu verschwinden. Ich will mich in seiner Dunkelheit wiegen, mich gänzlich in ihr einhüllen, sie aufsaugen wie ein nasser Schwamm, sodass wir eins werden und ich mich nicht darum sorgen muss, man könne mich hier unten finden, wenn man es wöllte. Die Kälte der Felsen an der brennenden Stirn hat mir ohnehin gefehlt. Ich brauche sie, um wieder klare Gedanken fassen, mich spüren zu können. Sie soll mich mit all ihrer Härte zurück in den Fluss der Gegenwart holen, ein kleines Loch in mich schlagen, sodass das Chaos entweichen und ich mich endlich in der einsamen Stille ausruhen kann; bis der Raum um mich herum nicht mehr bebt, bis ich das Blut in meinen Adern nicht mehr rauschen spüre, bis ich wirklich wach bin.